Dokumentation des Plenumsteils der Veranstaltung Bundesteilhabegesetz und Sozialraum

„Bundesteilhabegesetz und Sozialraum klingt ja erstmal nicht sexy.“ Mit diesen Worten führte der Moderator, der freischaffende Journalist Matthias Bongard, in das Thema der vom Inklusionskataster NRW organisierten Veranstaltung „Bundesteilhabegesetz und Sozialraum – zusammen neue Wege der Unterstützung finden“ ein. Ziel der Veranstaltung sei es, die abstrakten Begriffe Bundesteilhabegesetz und Sozialraum mit Leben zu füllen und zu zeigen, welche Bedeutung sie für den Alltag der Menschen haben.

Die Veranstaltung startete mit einem Grußwort des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes NRW. Lars André Ehm, leitender Ministerialrat der Gruppe „Inklusion von Menschen mit Behinderungen“ versicherte den rund 170 Teilnehmer/innen, dass sich die Landesregierung dafür einsetze, dass Menschen mit Behinderungen selbstbestimmt Leben können. So hat die Landesregierung unter anderem am 11.07.2018 das Ausführungsgesetz zur Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) verabschiedet. Das BTHG stellt den Menschen mit seinen individuellen Bedürfnissen in den Mittelpunkt. Ziel ist es, Leistungen so zu gestalten, dass sie den Wünschen und Lebensumständen der Menschen entsprechen.

Den ersten Vortrag mit dem Titel „Mit dem BTHG in den Sozialraum – Chancen der Umsetzunghielt Prof. Dr. Albrecht Rohrmann vom Zentrum für Planung und Evaluation Sozialer Dienste (ZPE) der Universität Siegen. Zunächst beantwortete er die Frage, was ein Sozialraum ist. Ein Sozialraum ist die räumliche Umgebung, in der sich Menschen in ihrem Alltag aufhalten, in der sie wohnen, arbeiten und ihre Freizeit verbringen. Der Sozialraum ist von Menschen erschaffen worden. Eine kleine Gruppe von Menschen gestaltet den Sozialraum nach ihren Bedürfnissen. Die Bedürfnisse anderer Menschen werden dabei nicht immer berücksichtigt und es kommt vor, dass der Sozialraum für einige Menschen nicht eigenständig nutzbar ist. Einige Menschen können im Sozialraum nichts alleine machen. Ziel sollte sein, dass der Sozialraum für alle Menschen geöffnet wird – auch für Menschen mit Behinderungen. Ziel sollte sein, dass auch Menschen mit Behinderungen im Sozialraum selbstbestimmt Leben und Dinge eigenständig machen können. Im BTHG stehen einige Regelungen, mit deren Hilfe die Sozialraumnutzung für Menschen mit Behinderungen verbessert werden kann. Zwar war das Gesetz sehr umstritten, aber jetzt ist es da und nun sollten seine Stärken auch genutzt werden. Besonders relevant, um einen Sozialraum für alle zu gestalten, ist die Regelung, dass Leistungsträger und Kommunen zusammenarbeiten sollen. Sie sollen gemeinsam dafür sorgen, dass sich ein gutes Lebensumfeld für die Menschen entwickelt. Dabei sollten die Kommunen die Federführung übernehmen, da sie die Situation vor Ort besser kennen als die Leistungsträger.

Wie kann man einen Sozialraum planen? Dieser Frage ging Prof. Dr. Michael Noack von der Hochschule Niederrhein in seinem VortragWie arbeitet man im Sozialraum?“ nach. Er wies zu Beginn seines Vortrags daraufhin, dass die Perspektiven unterschiedlicher Akteure auf den Sozialraum nicht identisch sind. So kann ein und derselbe Ort für verschiedene Individuen ganz unterschiedliche Bedeutungen haben. Im Sozialraum überlappen sich die unterschiedlichen individuellen Perspektiven, da Menschen hier miteinander in Kontakt treten. Für Verwaltungen ist der Sozialraum vor allem jenes Gebiet, für das sie zuständig sind. Dieses Gebiet entspricht aber oft nicht den Lebensräumen der Menschen, da Menschen z.B. Grenzen von Kommunen überschreiten, um zu arbeiten. Um einen für alle Menschen nutzbaren Sozialraum planen zu können, muss man zunächst herausfinden, welche Interessen und Bedarfe die in ihm lebenden Menschen haben. Dies kann mithilfe der Sozialraumanalyse geschehen. Die Sozialraumanalyse ist ein Koffer, der viele Methoden bereithält, um den Sozialraum kennen zu lernen. Eine dieser Methoden ist beispielsweise die Sozialraumbegehung. Hier suchen Forschende mit den im Sozialraum lebenden Menschen Orte auf, die für sie eine Bedeutung haben – ihnen z.B. Angst bereiten. Die Orte werden dokumentiert – beispielsweise durch Fotos. Die Ergebnisse der Sozialraumanalyse müssen so aufbereitet werden, dass sie für alle zugänglich sind. Und auch die Stadtteilwerkstatt, in der die Ergebnisse vorgestellt werden, sollte an einem für alle zugänglichen Ort stattfinden.

Dass es wichtig ist, im Sozialraum Partner zu finden, verdeutlichte Martin Reichstein (Wissenschaftlicher Mitarbeiter am ZPE) in seinem VortragIm Sozialraum Partner finden – Erfahrungswerte und Ergebnisse des Forschungsprojekts KoKoP“. Das in seinem Vortrag vorgestellte Projekt „Koordinationspotentiale kommunaler Teilhabepolitik in der Pflege, Behindertenhilfe und Sozialpsychiatrie“ (KoKoP) hat untersucht, inwiefern Akteure aus den Feldern Pflege, Dienste für Menschen mit geistiger Behinderung und Sozialpsychiatrie zusammenarbeiten, um komplexen Unterstützungsbedarfen gerecht zu werden. Das Forscher/innenteam des ZPE hat die Dienste aus den drei angesprochenen Feldern im Kreis Siegen-Wittgenstein befragt. Zusätzlich hat es mit Personen gesprochen, die in den Feldern arbeiten. Es zeigt sich, dass bei rund einem Fünftel der Befragten der Hilfebedarf der Klienten nicht vollständig gedeckt werden kann. Problematisch wird es vor allem dann, wenn der Klient bzw. die Klientin Unterstützungsbedarfe hat, die in unterschiedlichen Feldern angesiedelt sind und beispielsweise sowohl Pflegeleistungen als auch Leistungen aus dem sozialpsychiatrischen Bereich umfassen. Die Dienste versuchen das Problem beispielsweise dadurch zu lösen, dass sie den betreffenden Klienten oder die betreffende Klientin an eine andere Einrichtung aus demselben Feld abgeben. Eine Zusammenarbeit mit Partnern aus einem der anderen Felder ist hingegen selten. Es könnte aber sinnvoll sein, sich Partner aus anderen Feldern zu suchen, um dem komplexen Unterstützungsbedarf von Hilfeempfänger/innen gerecht zu werden. So könnte beispielsweise eine Netzwerkstruktur errichtet werden.

„Mein Sozialraum! Was ich brauche, um im Sozialraum zurecht zu kommen?“,so lautete der Titel des nächsten Beitrags. Er wurde von drei Referent/innen gestaltet. Lena Bertelmann (ebenfalls Wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZPE) hatte gemeinsam mit den beiden Leistungsempfänger/innen Erika Schmidt und Frank Langenbach den Sozialraum von Erika Schmidt und Frank Langenbach erkundet. Mithilfe von Karten und Fotos präsentierten die drei Referent/innen ihre Ergebnisse. Insgesamt sind Erika Schmidt und Frank Langenbach mit ihrem Sozialraum zufrieden. Alles, was sie zum täglichen Leben benötigen, ist von ihrem Wohnort aus zu Fuß erreichbar. Das Einkaufszentrum ist nicht weiter als 500 Meter entfernt. Die Arbeit in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen macht ihnen Spaß. Allerdings gibt es auch ein paar Probleme. So würde Frau Schmidt gerne schwimmen gehen. Zum Hallenbad fährt von ihrem Wohnort aus aber nur selten ein Bus. Zudem gibt es an der Bushaltestelle keinen Busfahrplan mehr, da vorausgesetzt wird, dass sich die Fahrgäste die Busverbindung im Internet heraussuchen. Wie sollen Menschen, die sich mit dem Internet nicht auskennen, wie Erika Schmidt und Frank Langenbach, an die benötigten Informationen kommen? Die Assistent/innen von Erika Schmidt und Frank Langenbach waren Wegbereiter in den Sozialraum. Sie haben den beiden vorgeschlagen, sich ehrenamtlich zu engagieren. Seit einiger Zeit helfen Erika Schmidt und Frank Langenbach nun dabei, Lebensmittel an Bedürftige auszugeben. Außerdem machen sie Spiele und Ausflüge mit Kindern.

Für die Abschlussrunde des Plenums am Vormittag betraten alle Referent/innen noch einmal die Bühne. Nun bekam das Publikum die Gelegenheit, Fragen an die Referent/innen zu stellen, auf Probleme im eigenen Sozialraum hinzuweisen und Wünsche zu äußern, die bei der Planung ihres Sozialraums berücksichtigt werden sollten. Ein wichtiges Thema waren die Kosten der Angebote im Sozialraum. „Wie soll ich irgendwo hingehen, wenn alles viel zu teuer ist und ich nur wenig Geld habe?“ fragte eine Teilnehmerin aus dem Publikum. Es wäre daher sinnvoll, wenn Menschen, die nur wenig Geld haben, auch weniger zahlen müssten. Ein Teilnehmer aus dem Publikum merkte an, dass nicht nur die Leistungsträger mit den Kommunen zusammenarbeiten müssten, sondern auch Kreise und Kommunen. Es müsste eine Struktur geschaffen werden, die es unterschiedlichsten Akteuren (Gemeinden, Kreisen, Stadtvierteln etc.) ermöglicht, miteinander zu kooperieren, um einen für alle nutzbaren Sozialraum zu gestalten. Auch wird es als notwendig angesehen, dass Menschen aus unterschiedlichen Professionen enger zusammenarbeiten. Die Teilnehmenden fordern außerdem, dass nur Versprechen abgegeben werden, die auch eingehalten werden können. Menschen mit Behinderungen sollten immer in Planungsprozesse eingebunden werden – auch in Forschungsprojekte, die den Sozialraum betreffen. Nach der angeregten Diskussion entließ der Moderator Matthias Bongard die Teilnehmenden der Veranstaltung in die Mittagspause.