Workshops im Rahmen der Veranstaltung „Bundesteilhabegesetz und Sozialraum - zusammen neue Wege der Unterstützung finden!“ am 09.11.18 Bad Sassendorf

Am Nachmittag standen neben sieben World Café-Tischen fünf Workshops auf dem Programm. Die Teilnehmenden wählten aus, ob sie an den Tischen im World Café mitdiskutieren oder lieber einen der Workshops besuchen wollten.

Die anderthalbstündigen Workshops beschäftigten sich mit der Ausrichtung des Leistungsgeschehens auf den Sozialraum und der Planung von Hilfen, die sich sowohl am individuellen Bedarf, als auch an den Möglichkeiten innerhalb des Sozialraumes einer Kommune orientieren. Wie gelingt die sozialräumliche Zusammenarbeit? Wie werden Angebote organisiert? Wie gestalte ich meinen Sozialraum? Dies waren einige der Fragen, die die Teilnehmenden in den Workshops diskutierten. Im Folgenden fassen wir jeden der fünf Workshops kurz zusammen.

Workshop 1: Möglichkeiten sozialräumlicher Zusammenarbeit

Referent: Martin F. Reichstein (ZPE, Universität Siegen)

Handout zum Workshop

 

Die Impulse

Nach einer Vorstellungsrunde startete der Workshop mit einem kurzen Impulsvortrag. Der Vortrag beschäftigte sich mit den Erkenntnissen der Netzwerkforschung und ihrer praktischen Anwendbarkeit. Dabei wurde inhaltlich auf den Plenumsvortrag „Im Sozial-Raum Partner finden – Erfahrungswerte und Ergebnisse des KoKoP-Projekts“ sowie auf Ergebnisse und Erfahrungen aus dem Projekt KIBA.netz zurückgegriffen. Vorgestellt wurde insbesondere das Konzept des „aufgabenbezogenen Netzwerks“ nach van Aalst1

  1. van Aalst, H. F. (2003). Networking in Society, Organisations and Education. In Networks of innovation: towards new models for managing schools and systems (S. 33–40). Paris: Organisation for Economic Cooperation and Development.

Die Impulse, die auf den KoKoP-Erkenntnissen basieren, können auch im Handout zum Workshop nachvollzogen werden. Im Anschluss teilten sich die Teilnehmer/innen in vier Kleingruppen auf, um an Metaplanwänden über vier sogenannte „Fallvignetten“ zu diskutieren. Die vorgestellten Fälle haben gemeinsam, dass hier Personen mehrere Hilfebedarfe haben. Diese würden, so die These, für sich betrachtet von Einrichtungen und Diensten aus unterschiedlichen Hilfesystemen bearbeitet. Dadurch, dass eine Person mehrere Hilfebedarfe hat, entsteht hier jedoch ein insgesamt komplexer Unterstützungsbedarf. Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, dass unterschiedliche Einrichtungen und Dienste mit dem Klienten bzw. der Klientin und auch untereinander zusammenarbeiten, um ein Unterstützungsarrangement zu erschaffen, dass den Bedarfen der Klient/innen gerecht wird.

Die Workshopteilnehmer/innen wurden gebeten, in ihren jeweiligen Gruppen darüber zu diskutieren, was in dem vorgestellten Fall aus ihrer Perspektive für eine „gute Unterstützung“ erforderlich sei. Weiterhin sollte überlegt werden, welche Partner/innen hierfür hilfreich bzw. notwendig wären. Vor allem die zweite Frage zielte dabei auf den oben angesprochenen Netzwerkgedanken. Die Ergebnisse der Kleingruppenarbeit wurden anschließend im Plenum zusammengeführt.

Worüber haben die Teilnehmenden in dem Workshop diskutiert?

Bereits während der Vorstellungsrunde thematisierten die Teilnehmenden das Bundesteilhabegesetz (BTHG)und seine möglichen Auswirkungen. Insbesondere die Berichte anwesender Praktiker/innen zeigten auf, dass das BTHG und die damit verbundenen möglichen Veränderungen zahlreiche Befürchtungen und Sorgen bei den Praktiker/innen hervorrufen. Die Teilnehmenden wiesen insbesondere auf mögliche Probleme hin, die sich für Mitarbeiter/innen von Diensten durch das BTHG ergeben können. Angesprochen wurde beispielsweise, dass sich ohnehin problematische Arbeitsbedingungen in Sozialen Diensten im Zuge der BTHG-Reform weiter verschlechtern könnten.

Die Teilnehmenden machten deutlich, dass sie grundsätzlich bereit seien, mit anderen Einrichtungen und Diensten zusammenzuarbeiten. Allerdings sei insbesondere fallunspezifische Netzwerkarbeit in der Praxis häufig zeitlich nicht möglich bzw. nicht refinanziert. Gerade fallunspezifische Netzwerke bieten jedoch, so die These, die Grundlage für eine dauerhafte und im Bedarfsfall zuverlässige Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen Einrichtungen und Diensten.

Ungeachtet dieser Einschränkungen wurde anhand der präsentierten Fallbeispiele überlegt, wer im vorliegenden Fall an einem hilfreichen Unterstützungsarrangement beteiligt werden sollte und welche Maßnahmen zu ergreifen sind.

Was kam als Ergebnis heraus?

Die Ergebnisse der Arbeitsgruppen verweisen grundsätzlich darauf, dass Koordination und Zusammenarbeit wichtig ist, wenn Unterstützungsarrangements mit und für Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf entwickelt werden sollen. Die Teilnehmenden sprachen sich für mehr Case-Management und den Ausbau bestehender Beratungsangebote aus. 

Anknüpfend an die KoKoP-Ergebnisse brachte Herr Reichstein die Kommunen als mögliche Akteure ins Spiel. Im Rahmen des KoKoP-Projektes wurde herausgefunden, dass im untersuchten Kreis Siegen-Wittgenstein die Kreisverwaltung von den Bürger/inne/n einer exemplarisch ausgewählten Gemeinde als kompetente Anlaufstelle für Fragen Sozialer Dienste wahrgenommen wird. Zugleich wird sie von den Einrichtungen, Diensten und Stellen der drei untersuchten Felder als fachlich kompetent und als „neutraler Dritter“ wahrgenommen.

Hieran könnten Überlegungen zur (künftigen) Rolle der Kommune bei der Organisation und Koordination von „aufgabenbezogenen Netzwerken“ in kommunalen Hilfefeldern sowie bei der Gestaltung individueller Unterstützungsarrangements anknüpfen. Mehrere Teilnehmer/innen vertraten die Ansicht, dass die Leistungsfähigkeit der Kreise und kreisfreien Städte in den genannten Punkten sehr unterschiedlich sei.

Das Wichtigste zusammengefasst:

Im Workshop zeigte sich, dass mit der Umsetzung des BTHGs große Unsicherheiten und Ängste verbunden sind. Insbesondere im Feld der Unterstützungsdienste und Leistungsanbieter gibt es viele Unklarheiten um die künftige Rolle und Aufgabenfelder von Fachkräften. Es besteht daher ein großer Informationsbedarf.

Ein gutes Case-Management und ein umfassendes Beratungsangebot erachteten die Teilnehmenden als sehr wichtig, wenn es darum geht die Fragen  „Was brauchen wir für gute Angebote?“ und „Wie können Angebote insbesondere auf die Bedarfe von Menschen mit komplexen Behinderungen besser ausgerichtet werden?“ zu beantworten. Abschließend kam die Idee der kommunalen Verantwortung auf, da – wie die Ergebnisse des KoKoP-Projektes aufzeigen – Kommunen häufig als neutrale Ansprechpartner im Leistungsgeschehen wahrgenommen werden.

Workshop 2: Qplus – Selbstbestimmt und gut versorgt im Quartier

Referent/innen:Heike Hauser, (Strategische Entwicklung für Eingliederungshilfe und Pflege, alsterdorf assistenz ost gGmbH),

John Senf, (Fachbereichsleitung Qualitätsmanagement, Strategiecontrolling, alsterdorf assistenz west gGmbH) und

Katrin Haubner (Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration, Amt für Soziales)

Präsentation Qplus zum Workshop

Präsentation BASFI zum Workshop

Handout zum Workshop

Das Projekt Qplus

Im 2. Workshop stellten die Referent/innen das Hamburger Kooperationsprojekt zwischen der Evangelischen Stiftung Alsterdorf (ESA) und der Hamburger Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration (BASFI) Qplusvor.

Kernziel des Projekts ist, gesellschaftliche Inklusion und individuelle Versorgungssicherheit so miteinander zu verzahnen, dass der Wille der Leistungsnehmer/innen handlungsleitend ist. Alle persönlichen Ressourcen sowie die Ressourcen des sozialen Umfeldes und des Quartiers, inklusive technischer Lösungen, sollen miteinbezogen werden.

Im Workshop wurde auf Grundlage der demographischen und gesellschaftlichen Ausgangssituation vorgestellt:

  • Was ist Qplus? 

  • Welche Ziele verfolgt Qplus?

  • Wie arbeitet Qplus?

  • Wie wirkt Qplus?

Vorgestellt wurde das Projekt Qplus durch Heike Hauser von der alsterdorf assistenz ost gGmbH und John Senf von der alsterdorf assistenz west gGmbH. Die Präsentation der Evangelischen Stiftung Alsterdorf zeigt den Ablauf des Workshops. Zusätzliche Informationen über das Projekt Qplus enthält das Handout zum Workshop.

Ausgehend von den Anregungen für mehr Selbstbestimmung im Quartier, die das Qplus-Projekt liefert, diskutierten die Teilnehmenden angeregt darüber, wie inklusive Sozialräume gestaltet werden können und welchen Einfluss das BTHG auf die Gestaltung inklusiver Sozialräume haben wird.

Im Workshop wurde der Ansatz von Qplus diskutiert und gemeinsam darüber nachgedacht, welche Möglichkeiten es gibt, Angehörige und Nachbarn zu bürgerschaftlichem Engagement zu motivieren. Dabei wurde herausgestellt, dass es bei bürgerschaftlichem Engagement im Sinne von Qplus nicht um eine „Ersatzleistung“ geht, sondern um eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung und neue Möglichkeitsräume auf Augenhöhe.

Es wurde außerdem diskutiert, inwieweit der Qplus-Ansatz auf Menschen mit Suchtthematiken und besonderen Persönlichkeitsmerkmalen übertragbar ist.

Ein weiterer Diskussionspunkt war die Frage, ob ein Trägerbudget auch für kleine Anbieter möglich ist und wie über Kooperationen zwischen Trägern Synergien geschaffen werden können. Das Trägerbudget in Hamburg wurde von der Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration, vertreten durch Katrin Haubner, durch eine Präsentation vorgestellt. Frau Haubner ist Fachreferentin für Vertragsrecht bei der BASFI in Hamburg (Referat Teilhabe am Arbeitsleben SGB IX, Vertragsrecht der Eingliederungshilfe, Soziale Entschädigung).

Was sind die wesentlichen Erkenntnisse, die gewonnen werden konnten?

Wichtig ist es, neue kreative Wege zu gehen und im Sinne von Menschen mit Assistenzbedarf Kooperationen und Arbeitsbündnisse zu suchen, sowohl mit Leistungsträgern als auch mit anderen Leistungsanbietern.

Dabei ist gegenseitiges Vertrauen die Grundlage für eine gute Zusammenarbeit, deren vorrangiges Ziel es ist, dass Menschen mit Assistenzbedarf möglichst selbständig im Quartier leben und ihren Alltag nach ihren Vorstellungen organisieren können.

Fazit des Workshops:

Resümierend konnte festgehalten werden, dass das Beispiel der Hamburger mit dem Projekt Qplus zeigt, dass die Funktion der Quartierslots/inn/en sowohl positiv als auch konstruktiv ist. Es bieten sich so mehr Chancen für Personen ganz unterschiedlicher Gruppen, auch wenn die Komplexität schwieriger wird. Letztlich ist die Gestaltung inklusiver Sozialräume eine Gemeinschaftsaufgabe und erfordert eine entsprechende Grundhaltung aller Beteiligten.

Themenfeld: Wie werden Angebote organisiert?

Workshop 3: „Gemeinsam(e) Perspektiven entwickeln?“

Referent : Matthias Kempf (ZPE, Universität Siegen)

Handout zum Workshop

 

Sechs Thesen zur koordinierten Zusammenarbeit

Im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitforschung zur Inklusionsplanung des Kreises Olpe wurde ein Verfahren der koordinierten Zusammenarbeit aller verantwortlichen Akteure bei der Organisation von Angeboten und Diensten für Menschen mit Behinderungen entwickelt und erprobt. Dieses Verfahren liefert den Hintergrund von sechs Thesen, die im Handout zum Workshop aufgeführt sind.

Nach einer kurzen Vorstellungsrunde wurde der Hintergrund erklärt, vor dem die sechs Thesen entwickelt wurden. Anschließend wurden die Thesen kurz vorgestellt. Während die erste These eine Beobachtung in Bezug auf Planungen in diesem Bereich beschreibt und somit die Ausgangslage, wird in den nächsten drei Thesen auf die Möglichkeiten und Grenzen eingegangen, die sich bei dem gewählten Vorgehen ergeben haben. Die These fünf bezieht sich auf den der Diskussion zugrunde liegenden fachlichen Diskurs und die Frage, in wie weit dieser in Reflexion der UN-BRK stattfindet.

Mit der letzten These wird die Rolle der Kommune in diesem Feld beleuchtet. Ungeachtet der veränderten Zuständigkeiten in den letzten Jahren hat die kommunale Ebene das Potenzial, als koordinierender Akteur bei der Entwicklung von Angeboten eine wichtige Rolle wahrzunehmen. Die Änderungen des BTHGs und der prominente Bezug auf den Sozialraum dort zeigen die Potenziale auf, die dadurch entstehen, dass Angebote gemeinsam koordiniert werden.

Worüber haben die Teilnehmenden diskutiert?

Die lebhafte Diskussion hat nicht alle Thesen gleich intensiv in den Blick genommen. Insbesondere die Thesen eins und sechs prägten die Debatte. These eins wurde im Wesentlichen zugestimmt und ergänzt: Angebote im Bereich der Behindertenhilfe würden häufig als „abgesteckte Claims“ behandelt. Zudem sei die Kommunikation auf kommunaler Ebene teilweise so defizitär, dass auf der operativen Ebene Angebote häufig unbekannt wären. Kritisiert wurde an aktuellen Planungen, dass diese auf zu hohen Ebenen ansetzen. Außerdem würden Instrumente wie z.B. die Regionalplanungskonferenzen, keine Planung leisten, sondern lediglich der Information dienen.

Kontrovers wurde diskutiert, in welcher Reihenfolge die verschiedenen Barrieren bearbeitet werden sollten. Einerseits müsse vor allem inklusives Denken, also ein Verzicht auf ausgrenzende Diagnosen und Denkmuster, angestrebt werden, um gelebte Inklusion zu verwirklichen. Andererseits wurden Vorurteile als Folge von zu wenig Kontakt und ausgrenzenden Strukturen angesehen, so dass „Inklusion nicht im Kopf hergestellt werden“ könne. Ebenfalls kritisch diskutiert wurde die Frage, in wie weit die Finanzierungsbedingungen der Unterstützungsdienste die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen negativ beeinflussen. So würden bei Problemen die Anzahl an Fachleistungsstunden erhöht und Hilfen teilweise nicht darauf angelegt, langfristig den Unterstützungsbedarf zu reduzieren. Dem gegenüber wurde vor unrealistischen Erwartungen im Hinblick auf Therapiemöglichkeiten gewarnt. Auch bei optimaler Unterstützung und einer konsequenten Beseitigung von Barrieren würde gerade bei intensiven Beeinträchtigungen Unterstützung oft notwendig bleiben.

Die Ergebnisse

Sowohl mit Blick auf die Menschen mit Behinderungen, als auch mit Blick auch die allgemeine Gesellschaft, wurden gegenseitige Ängste als wesentliches Hindernis für die Teilhabe identifiziert. Aufgrund fehlender Vertrautheit und Vorurteilen sei der Umgang mit Menschen mit Behinderungen häufig ausgrenzend und wenig wertschätzend. Ängste auf Seiten von Menschen mit Behinderungen wurden als strukturbedingt angesehen, da Einrichtungen dazu neigen, Menschen mit Behinderungen vor der Umwelt abzuschirmen. Dies vermeide Konfliktsituationen, anstatt sie zu lösen, Bewältigungsstrategien seien nur zum Teil ausgebildet und erprobt. Die separierenden Formen der Unterstützung begünstigen die fehlenden Kontakte zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen, was auf beiden Seiten zu einem sich verstärkenden System der Ausgrenzung führe.

Es sollten Begegnungsräume geschaffen werden, in denen Menschen mit und ohne Behinderungen aufeinander treffen, um einstellungsbedingte Barrieren abzubauen. Planungen auf kommunaler Ebene sind hierzu eher geeignet, da hier die Strukturen noch überschaubar sind. Um Hilfen weiterzuentwickeln, sei es ebenfalls notwendig, Barrieren zu benennen.

Als weitere Ansatzpunkte zur praktischen Umsetzung des BTHG für kommunale Planungsprozesse, welche gleichzeitig auch zur Umsetzung der UN-BRK beitragen, wurden zwei gegensätzliche Herangehensweisen benannt. So sollte einerseits nachhaltig das Bewusstsein der Bevölkerung dadurch verändert werden, dass Gemeinwesenarbeit verstärkt genutzt wird. Zudem sollten Potenziale des inklusiven Ehrenamtes, bei dem Menschen mit Behinderungen selbst Ehrenämter ausüben, ein hoher Stellenwert zukommen. Andererseits könnte durch eine stärkere Orientierung am Individuum die Unterstützung passgenauer und weniger standardisiert erbracht werden. Hierbei sollten sich auch Professionelle an Beispielen guter Praxis orientieren.

Die wichtigsten Erkenntnisse zusammengefasst

Die Verwirklichung einer inklusiven Gesellschaft geht mit sehr hohen Zielen einher. Planungsprozesse befinden sich in einem Spannungsfeld zwischen idealistischen und realistischen Zielen. Werden Angebote der Behindertenhilfe weiterhin als „abgesteckte Claims“ umgesetzt, so werden Ängste und Vorbehalte aufrechterhalten. Ein gezieltes Vorgehen auf planerischer Ebene erfordert Zwischenschritte und Maßnahmen müssen auf der richtigen Ebene, konkret vor Ort, ansetzen. Wichtig sind Begegnungsräume für Menschen mit und ohne Behinderungen sowie die Nutzung der Potentiale von Ehrenämtern. Inklusives Denken und Entprofessionalisierung sind wichtige Schlagworte zur Umsetzung.

Themenfeld: Wie gestalte ich meinen Sozialraum?

Das vierte Themenfeld griff den Ansatz „Vom Individuum aus denken“ aus praktischer und lebensweltnaher Perspektive auf. Zu diesem Themenfeld wurden zwei Workshops in einfacher, leicht verständlicher Sprache angeboten, welche Erfahrungen vor Ort im Sozialraum zum Gegenstand machten. Es ging darum, wie Sozialräume gestaltet und geöffnet werden können. Außerdem wurde thematisiert, wie Menschen mit Behinderungen an der Gestaltung ihres Sozialraums und den dort vorhandenen Angeboten mitwirken können.

Workshop 4a: Leben im Sozialraum

Referentin: Lena Bertelmann (ZPE, Universität Siegen)

Handout zum Workshop

Zur Bedeutung des Sozialraums

In den Regelungen zur gemeinsamen Verantwortung (vgl. § 4) im Ausführungsgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen zur Umsetzung des derzeit in der zweiten Reformstufe befindlichen Bundesteilhabegesetzes (AG BTHG NRW) wird vorgesehen, die Leistungen und Angebote der Eingliederungshilfe unter Berücksichtigung inklusiver Lebensverhältnisse und inklusiver Sozialräume weiter zu entwickeln und zu verbessern. Die Bedeutung des Sozialraums wird zwar mehrfach betont, der Begriff Sozialraum wird jedoch nicht näher bestimmt. Daher wurde im Workshop zunächst darüber gesprochen, was ein Sozialraum überhaupt ist. Eine Erklärung zum Begriff des Sozialraums sowie weitere Aspekte rund um den Sozialraum finden Interessierte im Handout zum Workshop.

Darüber wurde im Work·Shop gesprochen:

  • Was bedeutet das Wort Sozial·Raum?
  • Warum ist der Sozial·Raum wichtig?
  • Welche Orte und Aktivitäten sind für die Teilnehmer und Teilnehmerinnen wichtig?
  • Wie funktioniert das Leben der Teilnehmer und Teilnehmerinnen im Sozial·Raum?
  • Was klappt gut? Was müsste besser sein?
  • Was bedeutet gute Unterstützung für die Teilnehmer und Teilnehmerinnen?

So nehmen die Teilnehmer/innen ihren Sozial∙Raum wahr:

Der Sozial·Raum ist wichtig, weil dort das ganze Leben stattfindet.
Wenn es im Sozial·Raum Hindernisse gibt, kann man nicht überall dabei sein und mitmachen.
Wichtige Orte für die Teilnehmer und Teilnehmerinnen sind zum Beispiel die eigene Wohnung, die Arbeits·Stelle oder das Kultur·Zentrum.
Einige Teilnehmer und Teilnehmerinnen finden es schwierig, von einem Ort zum anderen zu kommen. Das liegt an den Busfahrplänen.
Bei den Teilnehmern und Teilnehmerinnen funktioniert das Leben im Sozial·Raum unter-schiedlich gut. Manche finden, dass andere Leute ihnen nicht zuhören. Und, dass ihre Wünsche nicht berücksichtigt werden. Andere meinen, dass ihnen gut geholfen wird, damit sie alles machen können, was ihnen wichtig ist.

Ergebnisse: Was bedeutet „gute Unterstützung“ für Betroffene?

Gute Unterstützung bedeutet, dass die Unterstützungs·Personen wissen, was für die andere Person wichtig ist.

Wenn die Unterstützungs·Person nicht weiß, was wichtig ist, dann soll man es ihr sagen.

Wenn die Unterstützungs·Person den Sozial·Raum nicht kennt, dann soll man ihn ihr zeigen.

 

Die wichtigsten Aussagen des Workshops:

Der Sozial∙Raum ist wichtig, weil das ganze Leben im Sozial∙Raum stattfindet.

Es ist manchmal schwierig, dorthin zu kommen, wo man hin will.

Die Unterstützungs∙Person muss wissen, welche Orte und Aktivitäten wichtig für eine Person sind.

Wenn die Unterstützungs∙Person nicht fragt, was wichtig ist: Sagen/Zeigen Sie es ihr!

Workshop 4b: Sozialraum – Wo fange ich an?

Referentinnen: Anna Kaminski (ZPE, Universität Siegen)

Karin Dombrowski, (Sozialwerk St. Georg)

Handout zum Workshop

 

Im Rahmen des Workshops wurde zur Bedeutung des Wortes Sozialraum hingeführt. Informationen zum Begriff des Sozialraums, zur Öffnung des Sozialraums und zu einem Good-Practice-Beispiel, das Quartiersprojekt „Wir in Geisweid“, finden Sie im Handout zum Workshop.

Ein Sozialraum beinhaltet die wesentlichen Orte des eigenen Lebens. Dabei ist zu bedenken, dass ein Sozialraum immer individuell ist. Das heißt, dass jeder Mensch einen eigenen Sozialraum hat. Dazu gehört die Wohnung bzw. der Wohnort des jeweiligen Menschen. Aber auch Wohnräume von Freunden und Familie, sowie Orte des alltäglichen Lebens, wie Einkaufsmöglichkeiten, Sportstätten und Begegnungsorte. Zu beachten ist, dass ein Sozialraum nicht unbedingt nur an einen Ort geknüpft ist, sondern auch an mehreren Orten sein kann. 

Im Workshop wurde sichtbar, dass es wichtig ist, seinen Sozialraum zu kennen, damit man diesen besser an die eigenen Bedürfnisse anpassen kann. Denn wer seinen Sozial-raum kennt, kann auch anderen Personen erklären, wo oder wobei er/sie auf Barrieren trifft.

Aber wie?

Um einen Sozialraum zu erkunden und damit Bedarfe festzustellen, gibt es unter anderem die Methode der Sozialraumerkundung. Dabei ist es zunächst besonders wichtig herauszufinden, was alles zum eigenen Sozialraum dazugehört. Anschließend wird eine Begehung durchgeführt bei welcher man einer anderen Person die wesentlichen Orte des eigenen Sozialraumes zeigt. Für eine Begehung braucht man Zeit und eine Idee, was man wann zeigen möchte, das heißt eine Begehung sollte man planen. Durch die Begehung können Barrieren sichtbar werden. Im Anschluss an eine solche Begehung sollte man sich dessen bewusstwerden, welche Barrieren im Alltag zur Behinderung wesentlich beitragen und anschließend in den Dialog mit entsprechenden Personen treten (wie z.B. den Assistent/inn/en, den Quartiersentwickler/inne/n etc.), die einem dabei helfen können, Hindernisse zu beheben oder zu überwinden. Wichtig ist hierbei, dass man seine Wünsche anderen Menschen gegenüber äußert, auch wenn man nicht danach gefragt wird, damit sich etwas verbessern kann.

Das heißt, dass man zunächst damit anfangen muss sich selbst die Frage zu stellen, was man in seinem Sozialraum braucht und es anschließend kommuniziert.

Reicht das?

Nein, denn um einen Sozialraum zu öffnen braucht es zum einen Anstöße durch Betroffene, um Barrieren und Hindernisse überhaupt zu erkennen, zum anderen braucht es die Motivation der Institutionen und Organisationen, sich ebenfalls zu öffnen, um diese Barrieren aus dem Weg zu schaffen.

Das Quartiersprojekt „Wir in Geisweid“

Wie Vernetzung im Sozialraum funktionieren kann, zeigt das Projekt „Wir in Geisweid“. Karin Dombrowski vom Sozialwerk St. Georg der Region Westfalen-Süd stellte das Projekt vor.

„Wir in Geisweid“ ist ein Quartiers-Projekt, das von der Stiftung Wohlfahrtspflege gefördert wird und erreichen möchte, dass man dort, wo man lebt, seine Nachbarn kennt, manchmal mit-einander feiert und sich im besten Fall gegenseitig hilft.

Menschen mit Unterstützungsbedarf in diesem Stadtteil sollen die Hilfen bekommen, die sie brauchen, um dort gut leben zu können. Dafür ist es wichtig, zu wissen, welche (Hilfs-)Angebote es bereits vor Ort gibt, diese zu sammeln und Neue zu schaffen, wenn sie fehlen. Wenn z.B. jemand in einen Sportverein gehen möchte und sich allein nicht traut, ist es wichtig, jemanden zu finden, der ihn begleitet oder dort begrüßt.

Wenn sich jemand einsam fühlt, ist es gut, sagen zu können: Dort gibt es am Wochenende ein Stadtteilcafé, da kann man einfach hingehen und es kostet auch nicht viel. Oder da gibt es eine Gruppe, die gern wandert und eine andere für Menschen, die gerne kochen.

Gerade werden Menschen geschult, die andere Menschen, die etwas Ähnliches erlebt haben wie sie selbst oder die sich in einer ähnlichen Lebenssituation befinden, beraten möchten. Das nennt man Peer-Beratung (Peer bedeutet „Gleich-Gestellter“). Da diese Menschen vieles erlebt haben, was ähnlich ist, fühlt man sich besonders gut verstanden.

Die Diskussionen zeigten verschiedene Perspektiven auf

Aus Perspektive der Mitarbeitenden von Trägern wurde angemerkt, dass bereits viel Sozialraumarbeit besteht und auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen eingegangen wird. Anbindung an den Sozialraum sei regulär in den Einrichtungen vorhanden.

Aus der Perspektive der im Workshop anwesenden Menschen mit Behinderungen stellt vor allem der Öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) eine enorme Hürde dar, um einen offenen Sozialraum zu verwirklichen. Es wurde deutlich, dass ihnen lange noch nicht möglich ist, an allem, woran sie gerne teilnehmen würden, teilzunehmen. Da die Einrichtungen häufig ländlich gelegen sind, müsste das ÖPNV- Netz deutlich ausgebaut werden und regelmäßig frequentiert sein, damit ein Hin- und Wegkommen zu den unterschiedlichen Angeboten möglich wird.

Die Perspektive der Heilerziehungspflege-Schüler/innen zeigte auf, dass das BTHG eine Herausforderung darstellt. Deutlich wurde, dass hier Zukunftsängste herrschen, da unsicher ist, welche Aufgaben Heilerziehungspfleger/innen nach Umstrukturierung des BTHGs zukommen. Einig waren aber auch sie sich darüber, dass ihre eigenen Sozial-räume wenig barrierefrei sind. Aspekte, wie der ÖPNV und bezahlbarer Wohnraum wurden hier ebenfalls aufgegriffen.

Wiederkehrend wurde die Finanzierung thematisiert, die laut der Teilnehmenden zu gering ausgeprägt sei, um einen Sozialraum öffnen zu können.

Ergebnisse: Wie kann die Öffnung von Sozialräumen gelingen?

Basis: Um einen Sozialraum zu öffnen, ist es zunächst wichtig, sich dessen bewusst zu sein, was der eigene Sozialraum ist. Es ist ebenfalls notwendig, sich dessen bewusst zu sein, was die eigenen Bedürfnisse sind.

 

Ideen zur Öffnung von Sozialräumen:

  • Stadtteilbegehungen sind eine Methode, zumindest den nahegelegenen Teil des eigenen Sozialraums zu erkunden und bieten die Möglichkeit, Barrieren und Potenziale dieses Sozialraumes zu erkennen.

 

Öffnung der Träger/ Institutionen:

  • Nutzung vorhandener Anbindungen an bereits vorhandene Angebote aus dem Sozialraum

  • keine „Sonderwelten“ schaffen, sondern Angebote der Behinderteneinrichtungen mit denen aus dem Sozialraum zusammenschließen

  • Assistenzen für Menschen mit Behinderungen sollten dahingehend geschult sein, dass sie die Bedürfnisse ihrer Klient/inn/en erfragen und die Wünsche bzw. Anmerkungen aufnehmen und versuchen, sie umzusetzen 

 

Institutionen in der Region:

  • Abbau von Berührungsängsten und Öffnung für Interessierte mit und ohne Behinderungen

  • barrierefreie - oder zumindest barrierearme - Ausgestaltung verschiedener Institutionen des öffentlichen Interesses

  • mehr öffentliche Behinderten-Toiletten zur Verfügung stellen, um einen längeren Aufenthalt in der Stadt zu ermöglichen

 

ÖPNV:

  • Ausbau des Netzes insbesondere in ländlicheren Regionen, damit die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben realisiert werden kann

 

Menschen mit Behinderungen:

  • aufklären, um ihr Empowerment zu verstärken

  • lernen, für sich selbst einzustehen, eigene Bedürfnisse wahrzunehmen und zu kommunizieren und mit Hilfe der Assistenzen an entsprechende Stellen weiterzugeben 

  • sich aktiv beteiligen

Die zentralen Aspekte zusammengefasst:

Die zentrale Frage war: Wie kann ein Sozialraum geöffnet werden? Neben räumlicher Barrierefreiheit, Trägeroffenheit und Assistenzoffenheit wurde auch der Ausbau vorhandener Möglichkeiten für wichtig befunden. Diskutiert wurde vor allem darüber, wie Menschen mit Behinderungen mehr einbezogen und zugleich bestärkt werden können. Die Sensibilisierung von Menschen mit Behinderungen sowie gute ÖPNV-Anbindungen wurden als wichtige Instrumente angesehen. Jeder Sozialraum ist anders. Um jedem Menschen die besten Möglichkeiten bieten zu können, ist es wichtig, von Anfang an Beteiligung zu haben, Einbindungen und Perspektivvielfalt.