Modellprojekt „Entwicklung von Leitlinien zu Qualitätsmerkmalen Begleiteter Elternschaft in Nordrhein-Westfalen“

Kurzbeschreibung

Das dreijährig angelegte Modellprojekt „Entwicklung von Leitlinien zu Qualitätsmerkmalen Begleiteter Elternschaft in Nordrhein-Westfalen“ von MOBILE – Selbstbestimmtes Leben Behinderter e. V. wird gefördert durch die Stiftung Wohlfahrtspflege NRW und wissenschaftlich begleitet durch das Zentrum für Planung und Evaluation der Universität Siegen.

Ziel ist es, die professionelle Unterstützung für Eltern mit Lernschwierigkeiten fachlich weiterzuentwickeln und für Familien wohnortnah zugänglich zu machen.

Bis Ende 2020 sollen hierzu Empfehlungen in Form eines Rahmenkonzeptes entwickelt, pilotiert und verbreitet werden.

Hintergrund des Projektes

Dass Eltern mit Lernschwierigkeiten und ihre Kinder zusammenleben können, ist in Deutschland auch fast zwölf Jahre nach der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention durch die Bundesrepublik Deutschland nicht selbstverständlich. Einerseits gibt es immer mehr Unterstützungsangebote für diese Zielgruppe, welche als Angebote der „Begleiteten Elternschaft“ an der Schnittstelle von Kinder- und Jugendhilfe und Eingliederungshilfe als ambulante Unterstützung in der eigenen Wohnung oder als stationäres Unterstützungsangebot in Mutter/Vater-Kind-Einrichtungen erbracht werden. Andererseits fehlt es aber weiterhin an wohnortnahen Angeboten für viele Familien. Dies hat u. a. zur Folge, dass Eltern und Kinder – insbesondere, wenn sie einen hohen Unterstützungsbedarf haben – ihr Umfeld verlassen müssen, um in eine weit entfernte stationäre Einrichtung zu ziehen. Schlimmstenfalls kommt es zu einer Trennung von Eltern und Kind, weil kein bzw. kein wohnortnahes passendes Angebot gemacht werden kann und die Familie nicht zu einem Umzug bereit ist.

Ein weiteres Problem ist, dass die Unterstützung eine Kombination aus Kinder- und Jugendhilfe- und Eingliederungshilfeleistungen ist und es deshalb häufig zu Zuständigkeitskonflikten kommt. Im BTHG ist für die Eingliederungshilfe erstmalig explizit aufgenommen, dass Mütter und Väter zur selbstbestimmten und eigenständigen Bewältigung des Alltags einen Anspruch auf Hilfe bei der Versorgung und Betreuung ihrer Kinder haben. Zudem stehen allen Eltern unabhängig von einer Behinderung Hilfen zur Erziehung zu. Ziel dieser freiwilligen Leistungen ist die Schaffung positiver Lebensbedingungen für Kinder, Jugendliche und ihre Familien. Es ist das Recht aller Eltern, diese bei Bedarf zu beantragen und in Anspruch zu nehmen.  Zu Zuständigkeitskonflikten kann es jedoch weiterhin führen, wenn es nicht gelingt, die Assistenzleistungen für Mütter und Väter mit Behinderungen, bezogen auf die individuelle Familiensituation, in ein sinnvolles Verhältnis zu den Hilfen zur Erziehung zu setzen, die alle Eltern adressiert.

Projektziel

Ziel des Projektes ist es, dass Eltern mit Lernschwierigkeiten und ihre Kinder zusammenleben können und vor Ort bedarfsgerechte und qualitätsgesicherte Unterstützung erhalten. Jugendämter, Landschaftsverbände, Leistungserbringer sowie betroffene Eltern und ihre Angehörigen sollen die notwendigen Informationen erhalten, um eine Unterstützung zu konzipieren, zu organisieren und umzusetzen bzw. in Anspruch nehmen zu können. Durch die Entwicklung eines Rahmenkonzepts mit Leitlinien zur Begleiteten Elternschaft soll die Qualität der Angebote gesichert werden.

Die im Projekt entwickelten Materialien und Ergebnisse der Begleitforschung sollen frei zugänglich und damit nutzbar gemacht werden. Sie dienen dazu, vor Ort die notwendigen konzeptionellen Grundlagen zu schaffen und Fachkräfte zu qualifizieren. So sollen sie langfristig und breitflächig zur Verbesserung und fachlichen Weiterentwicklung der professionellen Unterstützung von Eltern mit Lernschwierigkeiten beitragen.

Konkrete Umsetzung bzw. Maßnahmen

Das Herzstück des Projektes ist die Entwicklung eines Rahmenkonzeptes. Leistungsanbieter sowie Leistungsträger erhalten einen Orientierungsrahmen, wie die Unterstützung von Eltern mit Lernschwierigkeiten qualitätsgesichert erbracht werden kann. Hierzu wurden Leitlinien zu Qualitätsmerkmalen Begleiteter Elternschaft aufgestellt und entsprechende Indikatoren für Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität erarbeitet.

Das Rahmenkonzept richtet sich an:

  • Leitungs- und Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe und aus der Eingliederungshilfe zur Weiterentwicklung/Öffnung ihres Angebotes im Sinne Begleiteter Elternschaft
  • Leitungs- und Fachkräfte der Begleiteten Elternschaft, die ihr Angebot fachlich überprüfen bzw. weiterentwickeln wollen
  • Mitarbeitende in Jugendämtern und beim Träger der Eingliederungshilfe sowie bei anderen öffentlichen Stellen, die Unterstützungsangebote an (werdende) Eltern vermitteln

Das Rahmenkonzept wird über ein Jahr in zwei Regionen in Nordrhein-Westfalen (Rheinisch-Bergischer Kreis und Sundern) pilotiert und darüber hinaus in zahlreichen weiteren Kooperationen mit der Fachpraxis erprobt und weiterentwickelt.

Darüber hinaus werden auf Grundlage der Rückmeldung von Bedarfen aus der Praxis weitere Materialen – wie beispielsweise Informationen für (werdende) Eltern mit Lernschwierigkeiten oder Handlungsempfehlungen zur Finanzierung Begleiteter Elternschaft – entwickelt.

Nach Abschluss des Projektes sollen das Rahmenkonzept und die Materialien auf einer eigens dafür angelegten Internetseite veröffentlicht werden, so dass sie von allen Interessierten heruntergeladen werden können und entsprechend Verbreitung finden.

 

Die wissenschaftliche Begleitung des Projektes umfasst mehrere Erhebungen (wie die leitfadengestützte Befragung von Eltern mit Lernschwierigkeiten, Gruppendiskussionen mit Kostenträgern und Dienstleistungserbringern, narrative Interviews mit erwachsenen Personen, die Eltern(teile) mit Lernschwierigkeiten haben und eine NRW-weite quantitative Erhebung zu bestehenden Angeboten und Erfahrungen mit der Personengruppe). Die Ergebnisse sind in die Entwicklung der Materialien eingeflossen und werden in Fachpublikationen aber auch auf der Homepage des Modellprojektes veröffentlicht.

Darüber hinaus wird die Pilotierung des Rahmenkonzeptes wissenschaftlich begleitet. Auch hier sollen die Ergebnisse Eingang in die Überarbeitung der Materialien nach Abschluss der Pilotierung finden.

Projektpartner

Zu den Netzwerkpartnern des Projektes zählen insbesondere die Bundesarbeitsgemeinschaft Begleitete Elternschaft, das Landesjugendamt, unterschiedliche kommunale Jugendämter, die beiden Landschaftsverbände und Dienstleistungserbringer im Feld der Unterstützung für Menschen mit Behinderung oder aus dem Bereich der Kinder- und Jugendhilfe.

Darüber hinaus wird die Arbeit durch einen Projektbeirat begleitet. Dieser besteht aus Vertreter*innen der Ministerien (Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales; Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration), der Stiftung Wohlfahrtspflege, der Landschaftsverbände (LVR: Fachbereich Sozialhilfe, LWL: Landesjugendamt), der Hochschule (EvH Bochum), von Diensten, Einrichtungen und Verbänden im Bereich der Eingliederungs- und Kinder- und Jugendhilfe (ambulant und stationär) und der Betroffenen (LEBE NRW). Der Beirat trifft sich zwei Mal jährlich, um auf der Grundlage bisheriger Ergebnisse über die weitere Arbeit zu beraten.

Gleichberechtigung fördern und die Öffentlichkeit sensibilisieren

Wichtiger Ausgangspunkt des Projektes ist Artikel 23 der UN-BRK, welcher die Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderungen in allen Fragen der Ehe, Familie, Elternschaft und Partnerschaft betont.

Einerseits hat zumindest in der Fachwelt mittlerweile teilweise ein Umdenken stattgefunden, und es wird anerkannt, dass auch Eltern mit Lernschwierigkeiten ihren Elternaufgaben gerecht werden können. Andererseits wird bei der häufig emotional aufgeladenen Diskussion teilweise außer Acht gelassen, dass jeder Mensch das Recht hat eine Familie zu gründen, dass Kinder das Recht haben, bei ihren Eltern aufzuwachsen, und dass bei Schwierigkeiten im Familienleben ein Rechtsanspruch auf Unterstützung besteht. Damit gibt es einen gesellschaftlichen Auftrag, Bedingungen zu schaffen, in denen Eltern mit Lernschwierigkeiten und ihre Kinder zusammenleben können und die erforderliche Unterstützung finden.

Eine umfassende Netzwerk- und Öffentlichkeitsarbeit, die sich insbesondere an die Fachöffentlichkeit richtet und u. a. in Form von Newslettern, Fachartikeln, Seminaren an Hochschulen oder der Projektvorstellung auf Veranstaltungen stattfindet, soll zu einer Bewusstseinsbildung im Sinne von Artikel 8 der UN-BRK beitragen.

Einschätzung des Inklusionskatasters anhand der Kriterien des Katasters

Inklusive Angebote als Ziel

Eltern mit Lernschwierigkeiten sind in erster Linie Eltern, mit denselben Bedürfnissen, Wünschen und Ängsten wie alle anderen Eltern auch. Durch eine zu starke Konzentration auf die Dimension der Behinderung besteht immer die Gefahr, die Eltern genau hierauf zu reduzieren, bestehende Zuschreibungen und kategoriales Denken zu fördern. Gleichzeitig ergeben sich in Bezug auf die Unterstützung von Eltern mit Lernschwierigkeiten durchaus auch spezielle Anforderungen.

Anliegen des Projektes ist es, genau auf diese besonderen Bedürfnisse hinzuweisen. Die Anforderungen, die sich für die Zusammenarbeit mit dieser Personengruppe ergeben, liegen dabei nicht nur auf der individuellen Ebene der Beeinträchtigung (z. B. eingeschränkte Lese- und Schreibkompetenz), sondern beruhen häufig auf den mit der sozialen Zuschreibung „geistige Behinderung“ verbundenen wirkmächtigen Konsequenzen für Biographie und Lebenswelt (z. B. das Leben und Arbeiten in Sondereinrichtungen). Hinzu kommt, dass sich bei Eltern mit Lernschwierigkeiten häufig noch weitere Benachteiligungen und Belastungsfaktoren summieren, die in Wechselwirkung stehen, sodass es sich um eine besonders verletzliche Gruppe handelt.

Eltern mit Lernschwierigkeiten sind so einerseits mit „besonderen“ Problemen konfrontiert, z. B. möglicherweise der Situation, dass ihre Kinder ihnen zu einem früheren Zeitpunkt als bei anderen Eltern, kognitiv „überlegen“ sind. Andererseits sind sie jedoch in der Regel auch mit genau den gleichen Herausforderungen und Problemen konfrontiert, wie alle Eltern. Es geht daher im Kern immer um Themen, die ganz allgemein in der Jugendhilfe eine wichtige Rolle spielen (z.B. Kinderschutz), die sich aber möglicherweise vor dem Hintergrund einer besonderen Verletzlichkeit potenzieren. 

Durch die Verbreitung von immer mehr Spezialangeboten für die Zielgruppe besteht die große Gefahr, diese als besonders zu markieren und zu stigmatisieren. Zudem werden die eigentlich Zuständigen aus der Pflicht genommen. Ziel des Projektes ist es daher nicht zur Verbreitung hochspezialisierter Angebote beizutragen, sondern vielmehr Kostenträger, Leistungserbringer und Fachkräfte dazu zu ermutigen, sensibel für die Lebenslagen und Bedarfe von Eltern mit Lernschwierigkeiten zu werden, Berührungsängste abzubauen und bestehende Angebote entsprechend zu öffnen und anzupassen.

Dabei geht es über die professionelle pädagogische Unterstützung hinaus auch darum, allgemeine Angebote für Eltern und Familien (wie z. B. Erziehungsberatung, Freizeitangebote) inklusiv zu gestalten. Professionelle Unterstützung im Rahmen Begleiter Elternschaft kann hierzu beitragen, indem sie eine Nutzung allgemeiner Angebote durch die Eltern gezielt fokussiert und vermeidet gesonderte spezialisierte Dienstleistungen (z. B. exklusive Elternbildungsangebote für Menschen mit Lernschwierigkeiten) anzubieten oder zu vermitteln.

Berührungsängste abbauen und Reflektionsmöglichkeiten schaffen

Im Verlauf des Projektes wurde immer wieder deutlich, dass v. a. der Abbau von Berührungsängsten eine wichtige Grundvoraussetzung ist, um das Ziel einer inklusiven Angebotsstruktur zu erreichen. Fachkräfte äußern nicht selten Unsicherheiten, Ängste oder gar Vorurteile, wenn es um die Begleitung von Eltern mit Lernschwierigkeiten geht. Grundlage sind in der Regel fehlende Erfahrungswerte und auch Wissen: So hatten Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe häufig noch keine Berührungspunkte mit Menschen mit Lernschwierigkeiten, wohingegen Fachkräfte im Feld der Unterstützung für Menschen mit Behinderung in der Regel kaum über Erfahrungen in der Begleitung von Familien verfügen. Im Rahmen des Projektes wurden bestehende Ängste und Stereotype immer wieder aufgegriffen, offen thematisiert und kritisch hinterfragt.

Vor diesem Hintergrund sollen das Projekt und dessen Ergebnisse Räume zur Reflektion fördern. So versteht sich auch das Rahmenkonzept nicht als „Patentrezept“, sondern bietet neben wichtigen konzeptionellen Hinweisen auch zahlreiche Möglichkeiten, das eigene Vorgehen und insbesondere die damit verbundene Haltung als Fachkraft immer wieder kritisch zu hinterfragen und (weiter) zu entwickeln.

Unterschiedliche Perspektiven als Ausgangspunkt

Das Modellprojekt zeichnet sich insbesondere durch die Verbindung aus Theorie und Praxis aus. So fließen die Ergebnisse der begleitenden Forschung wie auch die Rückmeldungen aus der Praxis unmittelbar in die Erstellung der Materialien ein. Die umfassende Einbindung unterschiedlichster Akteure aus dem Feld ermöglicht es dabei, die verschiedenen Sichtweisen und Bedarfe zu berücksichtigen.

Wichtiger Ausgangspunkt sind insbesondere die von den Familien selber formulierten Wünsche und Bedürfnisse. Daher wurde im Rahmen der Begleitforschung ein besonderer Schwerpunkt darauf gelegt, indem sowohl die Perspektive der Eltern als auch ihrer (erwachsenen) Söhne und Töchter umfassend erhoben wurde. Da es trotz intensiver Bemühungen leider nicht gelungen ist Eltern mit Lernschwierigkeiten als Expert*innen in eigener Sache für die Teilnahme am Projektbeirat zu gewinnen, wird ein Workshop für Eltern mit Lernschwierigkeiten angeboten. Der Workshop soll Expert*innen in eigener Sache, die Möglichkeit bieten. sich in einem geschützten Raum unabhängig von ihrer individuellen Lebenssituation kritisch zu äußern. Ihre Sichtweisen und auch Forderungen werden aufgegriffen und sollen anschließend entsprechend weitergetragen werden. Da keine Beteiligung von Expert*innen in eigener Sache umgesetzt werden konnte, besteht im Bereich der inklusiven Ausrichtung des Projektes noch Weiterentwicklungsbedarf. Es wäre zu wünschen, dass im Verlauf der Projektzeit die Meinung von Menschen mit Lernschwierigkeiten stetig eingebunden und gehört wird.

Im Rahmen des Projektes soll jedoch auch insgesamt den geäußerten Bedürfnissen aller unterschiedlichen Akteure nachgekommen werden. So werden die im Projekt entwickelten Materialien beispielsweise ausgehend vom vorhandenen Bedarf, sowie orientiert an Problemen und Wünschen der Fachkräfte entwickelt.

Auch die Pilotierung des Rahmenkonzeptes zeichnet sich durch einen hohen Grad an Flexibilität aus. Die Ausgangslage in den beiden Regionen, die Problemanzeigen und Wünsche der Akteur*innen vor Ort sind der Ausgangspunkt der Prozesse, die bereits jetzt jeweils vollkommen unterschiedlich ablaufen.

Indem die Rolle des Projektes bei den Pilotierungen aber auch allen anderen Beratungs- und Kooperationsprozessen eine beratende ist, sollen die Akteure vor Ort in die Lage versetzt werden, eigenverantwortlich nachhaltige, lokale Konzepte und Strukturen zu entwickeln. Allerdings bleibt fraglich, ob eine Übertragung des Projektes in andere Regionen sinnvoll umgesetzt werden könnte. Vielmehr können die Unterlagen und Erkenntnisse, die aus dem Projekt resultieren in andere Regionen eingebunden werden und jeweils an die vorhandenen Strukturen und Gegebenheiten angepasst.

Kontaktdaten

Ulla Riesberg, Christiane Sprung     

MOBILE – Selbstbestimmtes Leben Behinderter e. v.

Modellprojekt Begleitete Elternschaft NRW

Hohe Str. 30

44139 Dortmund

Tel.: (0231) 58 06 34 78

https://www.mobile-dortmund.de/141-0-Modellprojekt-Begleitete-Elternschaft-NRW.html